ein Reisebericht
Vom 5.-8. November fuhren vier Braunschweiger nach jahrelanger Planung und durch Corona bedingter Verzögerung nach Laon in Frankreich. Die Reise hatte nur einen Zweck: Gotische Kathedralen in der Picardie und der Champagne besichtigen. Nebenbei gab es selbstverständlich Annäherungsversuche an die französische Küche und neue Erkenntnisse aus der Pizza-Forschung, die an einschlägige nordfriesische Comic-Weisheiten erinnern: „Mit’m Öl nich spaasam sein!“. Doch davon später mehr.
Wir wollen hier eine Art Studienreise beschreiben. Diese begann an einem Freitag Anfang November morgens an der Autovermietung unseres Vertrauens und endete ebendort nach 2.125 Kilometer am darauf folgenden Montag zur Fünf-Uhr-Tee-Zeit. Jedes Mitglied der Reisegruppe bekam vom Initiator eine Hausaufgabe, bevor es losging. Jeder sollte Wissenswertes über eine Kathedrale auf der Strecke herausfinden und den anderen erklären. Mich „traf“ Reims.
Cathédrale de Reims
Ich fange dann mal mit „meiner“ Kathedrale an: Reims in der Champagne. Bevor es aber richtig losgeht, soll erst einmal die Stadt vorgestellt werden, in der wir uns befinden.
Bilder in größerer Auflösung finden sich unten in der Bildergalerie
Über Reims
Reims ist Universitätsstadt und hat ausweislich der deutschen Wikipedia im eigentlichen Stadtgebiet 182.000 Einwohner, zusammen mit den zugehörigen Gemeinden sind es 220.000 und in der Region sind es 290.000 Menschen. Schon im Frühmittelalter war die Stadt intellektuelles Zentrum des damaligen Frankenreichs. Heute werden Natur- und Geisteswissenschaften hier gelehrt und die Elitehochschule Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po) hat hier eine Zweigstelle.
Geschichtliches
Der Legende nach ist Reims eine Gründung von Remus (um 750 v. Chr.), dem Bruder des Romulus und Gründer von Rom. Die Einwohner nannten ihren Ort Rèmes, woraus dann Reims wurde. Als eigentliche Stadtgründer gelten aber die Kelten um 80 v. Chr., das Stadtrecht wurde 1139 verliehen. Seit der Französischen Revolution, in deren Folge die Provinz Champagne aufgelöst wurde, gehört Reims zum Département Marne. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870-71) und Ende des Zweiten Französischen Kaiserreichs wurde Reims kurzzeitig Sitz des preußischen Generalgouverneurs. Auch 1914 machten die Bewohner von Reims Bekanntschaft mit dem deutschen Militär, allerdings mit katastrophalen Folgen. In der Marneschlacht erlitten Stadt und Kathedrale schwere Zerstörungen. Im Zweiten Weltkrieg waren nicht so starke Zerstörungen zu beklagen. Vielmehr markiert der 7. Mai 1945 ein wichtiges Datum in der deutsch-französischen Geschichte: An diesem Tag unterzeichneten die Deutschen in Reims die Kapitulationsurkunde. Seitdem gilt die Kathedrale als Mahnmal des Friedens.
Heute
Heute ist die Stadt Zentrum der Champagnerherstellung. Ansonsten arbeiten die Leute in den Universitätskliniken (Centres Hospitaliers Universitaires de Reims), der der größte Arbeitgeber hier ist. Ehemals fast so bedeutend in dieser Hinsicht war die Militärbasis in Bethény, nördlich von Reims. Eine größere Rolle als Arbeitgeber spielt auch heute noch die Öffentliche Verwaltung.
Nun aber zur Kathedrale
Wir haben es hier mit einem architektonischen Meisterwerk der Hochgotik zu tun, das der Jungfrau Maria gewidmet, UNESCO-Weltkulturerbe ist und über mehrere Jahre Krönungskirche der französischen Könige war. Napoleon allerdings ließ sich in Paris krönen. Heinrich I bis Karl X (1824, 2. Phase der Restauration) wurden hier gesegnet.
Herausragendes Merkmal ist die reich verzierte Westfassade mit einer überbordenden Anzahl von Figuren und Reliefs. Allein unterhalb der Hauptrosette befinden sich 56 figürliche Darstellungen in der „Galerie der Könige“. Erbaut wurde die Kathedrale zwischen 1211 und etwa 1450, die Länge beträgt 139 Meter, die Breite 55 und die Höhe 39 Meter. Erster Baumeister war Hugo Libergier.
Herausragendes
Bereits im fünften Jahrhundert befand sich an selber Stelle ein Vorgängerbau, davor gab es hier gallo-römische Thermen. Ursprünglich waren sieben Türme geplant, von denen allerdings nur zwei auf dem Westwerk realisiert wurden. 1220 erfand man in Reims das Maßwerk (die steinerne filigrane Einfassung von Fenstern und Rosetten über den Portalen). Herausragendes Stilmittel bilden aber die 2.300 Skulpturen außen, die den aufmerksamen Betrachter in einen „architektonischen Rausch“ versetzen, wie es in einem Artikel heißt. Am Hauptportal begrüßt die „Jungfrau mit Kind“ die Eintretenden, beim Herausgehen der „Lächelnde Engel“, der ein Beispiel für die ausdrucksstarke Gestaltung von Lebendigkeit in den Gesichtszügen repräsentiert – laut Fachleuten typisch für die damaligen Steinmetze der Champagne. Dieser Engel, geschaffen um 1255, überstand auch die Zerstörungen des Ersten Weltkrieges. Auf dem Vorplatz begrüßt den Besucher Jeanne d’Arc, deren Skulptur an den 100 jährigen Krieg erinnert, in dem die Engländer zurückgedrängt wurden und Karl VII. die Regentschaft 1429 ermöglichte. Schaut man sich um, fällt auf, dass das Stadtzentrum sich außerhalb der Kathedrale befindet – ungewöhnlich.
Die Katastrophe von 1914
Im September 2014 fiel die Kathedrale, wie auch die Stadt, während der Marneschlacht den Angriffen der deutschen Wehrmacht zum Opfer. Das Dach brannte ab, nur die Außenmauern blieben stehen. In den Friedensjahren danach wurde der Dachstuhl mit Unterstützung der Familie Rockefeller durch Henry Deneux mit Zementpfeilern wieder aufgebaut und die äußere Gestaltung verändert. Die goldenen Lilien als Verzierung des Dachstuhls und Kennzeichen der Krönungskirche blieben aber erhalten.
Zweiter Weltkrieg und die Deutsch-Französische Versöhnung
Der Zweite Weltkrieg verlief für die Stadt, zumindest hinsichtlich der Zerstörungen, glimpflich. Reims kam in den Nachkriegsjahren als „Stadt des Friedens“ zu einiger Bekanntheit. Am 8. Juli 1962 trafen sich hier Charles de Gaulle und Konrad Adenauer zu deutsch-französischen Versöhnungsgesprächen. Auch später wurde diesem Ereignis gedacht, so zum Beispiel 2012, als sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem damaligen Staatspräsidenten Francois Hollande traf.
Westwerk
Auffällig ist zunächst, dass es innen nicht so hell ist, wie man es in hochgotischen Kathedralen erwartet. Dafür sticht die Farbenpracht der Fenster, fast allesamt aus der Nachkriegszeit nach 1945, stark heraus. Hat man die figürliche Pracht des Hauptportals hinter sich, offenbart sich dieser Reichtum auch auf der Innenseite. Am Mittelportal besetzen Episoden aus dem Leben Mariens die linken Nischen: Die Verkündigung der Geburt Mariens, das Massaker an Unschuldigen und die Flucht nach Ägypten. Rechts sind Episoden aus dem Leben von Johannes dem Täufer zu sehen. Bei den Säulenreihen im Mittelschiff fallen die reich gestalteten Kapitelle mit durchgehender Umrandung auf. Verlässt man das Hauptschiff, tritt man in eine weiträumige Vierung mit großem hohen Chor ein. Hier war genug Platz für die Krönungsfeierlichkeiten mit vielen Beteiligten.
Auf den Weg nach Osten…
In der Ostapsis tifft man auf ein farbliches Feuerwerk. In der Hauptachse hat Marc Chagall ein neues Fenster geschaffen, das die „Wurzel Jesse“ abbildet. Weitere sechs Fenster stammen von dem deutschen Künstler Imi Knoebel, die den Kirchenraum in ein zauberhaftes blau-rot tauchen. Eigentlich sollte ein bekannterer deutscher Künstler damit betraut werden, der allerdings ablehnte: Gerhard Richter – jener, der im Kölner Dom die umstrittenen Fenstern aus farbigen Rechtecken schuf und dem damaligen Kardinal Meißner die Zornesröte ins Gesicht getrieben hatte. Richter jedenfalls wollte nicht in Konkurrenz zu Chagall treten, die Verantwortlichen wollten Imi Knoebel nicht. Ich jedenfalls fand das Resultat höchst beeindruckend, wenn auch im Vergleich zum Chagall-Fenster optisch ein wenig „laut“:
Blick nach Norden: Die Orgel… derzeit abgebaut (November 2021)
Im Westwerk hat kein Orgelbauer auf Grund der Fensterrosetten gewagt, eine Orgel zu platzieren. So entschied sich bereits 1487 bis 1489 Oudin de Hestre, ein erstes Instrument an die Nordwand der Vierung zu bauen, ähnlich wie ursprünglich im Kölner Dom und anderswo. Im 17. Jahrhundert, als Nicolas de Grigny (1672-1703) Titularorganist war, wurde das Orgelgehäuse umgestaltet und bekam heute seine äußere barocke Gestalt im Stile Louis XIII. Danach wurde das Instrument 1647 von E. Enocq umgebaut, gefolgt von einer ersten Vergrößerung 1696 von J. Vuisbecq und einer zweiten Erweiterung 1765-75 von Louis Péronard. Schließlich wurden die Arbeiten 1811 von Pierre-François Dallery ausgeführt, gefolgt von einer Renovierung durch René Cochu. Zu dieser Zeit und danach dürfte das Instrument weitgehend dem französisch-spätbarocken Klangideal entsprochen haben. 1853, also in einem Zeitraum, in dem ein Orgelbauer wie Aristide Cavaillé-Coll in seiner Orgelmanufaktur in Paris bedeutende Orgeln in St. Sulpice und Notre Dame de Paris schuf, war es ausgerechnet ein Engländer, der in Reims bedeutende Umbaumaßnahmen durchführte. 1853 baute John Abbey (1785-1859) die Orgel in ein 53-Register-Instrument mit 3 Manualen und 3.516 Pfeifen um. Abbey war zunächst Schreiner, lernte sein Orgelhandwerk in London bei renommierten Orgelbauern. Er wurde vom französischen Klavierproduzenten Sébastien Érard nach Frankreich zu einer Zeit geholt, in der der Orgelbau (angeblich) darniederlag. Möglicherweise war hiermit Aristide Cavaillé-Coll gemeint, der damals den Typus des damals modernen französisch-romantischen Orgelbaus repräsentierte. Wir werden hier also ein klassisches barock eingefärbtes Instrument vor uns gehabt haben. Der Orgelbauer Emile Déjardin führte bis 1874 Arbeiten an dem Instrument aus, 1908 wurde das Orgelgehäuse unter Denkmalschutz gestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg baute der Orgelbauer Victor Gonzales 1937-38 ein Instrument mit 86 Registern und 4 Manualen. Pfeifen aus der Zeit vor 1938 wurden im Juni 1982 unter Denkmalschutz gestellt. Gonzales baute ebenfalls neobarock – oder das, was er und die Kollegen seiner Zeit darunter verstanden. Von Vorbildern, wie den Silbermanns aus dem Elsaß, blieb man aber weit entfernt.
Orgel Tondokumente
Seit dem Frühjahr 2021 ist statt der Orgel ein Gerüst zu sehen, das Instrument ist ausgebaut. Hier das Projekt:
- Historische Aufnahme (INA.FR) Vorstellung der Orgel, des damaligen Organisten und einer Bachpräludiums, vom Kanalbetreiber auf 28.10.1967 datiert : https://www.youtube.com/watch?v=ban-DyYQXbc
- Live-Audioaufnahme eines Bachpräludiums , eingestellt 07.01.2017. Zeigt den Zustand kurz vor der Stilllegung und Restaurierung ab Frühjahr 2021. Offensichtliche Mängel in der Stimmhaltung sind zu hören, was auf Probleme in der Windversorgung und Undichtigkeiten in den Windladen bzw. den Zuleitungen hinweist. Ansonsten der typische „neoklassisch“ silbrige, leicht unscharfe Klang wie bei vielen Gonzales-Orgeln: https://www.youtube.com/watch?v=S1KA6IwwxXA
- Bericht über die Restaurierung der Orgel im regionalen Fernsehen. Zuvor war die Orgel zwei Jahre zuvor unspielbar geworden. Kurze Beschreibung des Werks durch die Orgelbauer Eric Brottier (Maître d’oevre (Projektleiter)) und Pascal Quorin (Chef der gleichnamigen Orgelbaufirma aus Vaucluse)). Es werden u.a. Reinigungsarbeiten vorgenommen und der innere Aufbau reorganisiert. Seit Weihe der Gonzales-Orgel 1938 seien keine Restaurierungsarbeiten vorgenommen worden. Die Arbeiten sollen dreieinhalb Jahre dauern, 30.000 Arbeitsstunden verbrauchen und 2 Mio. Euro kosten. Begonnen haben sie im Frühjahr 2021: https://www.youtube.com/watch?v=7ExubzPCs8M
- Improvisation Vincent Dubois, heute dritter Titularorganist in Notre Dame de Paris, eingestellt 13.03.2014: https://www.youtube.com/watch?v=PUIm57u6cv8. Im Vergleich zu 2017 scheint hier noch weitgehend alles in Ordnung zu sein. Von irgendwelchen Windproblemen ist nichts zu merken. Außerdem kann die Aussage des oben beschriebenen Berichts des Lokalfernsehens nicht stimmen, dass seit 1938 an der Orgel nichts passiert sei. Der Spieltisch ist neueren Datums, verfügt über eine Setzeranlage und elektronische Spielhilfen wie z.B. Sostenuto. Ein Benutzer meinte in den Kommentaren zu diesem Video:
„Schöne Improvisation. Sehr glücklich, ENDLICH eine der ersten neoklassischen mechanischen Orgeln in Frankreich zu hören. Dieses Instrument mit 87 Registern aus der Zeit, in der Victor Gonzalez vor dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe eines der größten Pioniere der Orgelbewegung dieses Werk anfertigte, nämlich Rudolph von Beckerath (1907-1976, siehe Infoblock unten) Es ist eine wundervolle Entdeckung, und zum Glück ist die Tonaufnahme sowie der Surround-Sound hervorragend. Vielen Dank für die Veröffentlichung dieser Videos.“
- Zusammenfassender Artikel in france bleu: https://www.francebleu.fr/infos/societe/reims-le-grand-orgue-de-la-cathedrale-des-sacres-va-bientot-etre-restaure-1612288263
Rudolf von Beckerath, ursprünglich aus München, erwarb in Hamburg zunächst die Profession des Maschinenbauingenieurs bevor er sich dem Orgelbau widmete. Auf Empfehlung des Schriftstellers und Orgelbauers Hans Henny Jahnn, einem „Orgelreformer“ der Orgelbewegung, vervollkommnete er seine Ausbildung eben bei diesem Victor Gonzales. Von Beckerath wie auch Gonzales waren von der Orgelbewegung beeinflusst, die sich vom französisch-romantischen Klangideal entfernten und wieder mehr „bachsche“ Orgeln mit expressiven Mixturen und engen Mensuren bauten. 1931 wurde er sogar Teilhaber von Gonzales. Nach dem Zweiten Weltkrieg legte er endlich in Deutschland seine Meisterprüfung im Orgelbau ab und baute 1955 die Orgel für die Hauptkirche St. Petri. Orgelbauten in unserer Nähe: Marktkirche Hannover (inzwischen von Goll ersetzt), St. Katharinen Braunschweig